“Wo ein Wille ist, da ist ein Weg“, sagt ein altes englisches Sprichwort; aber nicht immer ein Radweg. Steigenden Zahlen an Fahrradfahrer*innen steht oft eine mehr oder weniger gut ausgebaute Infrastruktur gegenüber. Oft liegt der Fokus dabei auf innerstädtischen Bereichen. Nicht zuletzt durch das erhöhte Aufkommen an E-Bikes, die den Radius auch untrainierter Radler*innen erweitern, nimmt auch der Bedarf an Radwegen als Verbindung zwischen den Städten und Dörfern zu. Aber wo sind die Lücken im interkommunalen Radnetz und welche Verbindungsstrecke hat die höchste Priorität? Bei knappen Kassen und vielen Beteiligten ist eine strukturierte Planung, ein sog. Bedarfsplan, gefragt. Die Landesverwaltung von Baden-Württemberg hat eine Vorreiterrolle eingenommen.
Nachfrage nach eigenständigen Radwegen steigt
Immer mehr Menschen wollen mittlerweile mit dem Fahrrad zwischen den Städten zur Arbeit oder Schule pendeln, damit ihre Gesundheit verbessern oder Freizeitaktivitäten nachgehen. Oft fühlen sie sich jedoch nicht wohl dabei, die Straße mit Autos und Lastwagen zu teilen. Schätzungen zufolge liegt der Anteil an Bundes- und Landesstraßen in Baden-Württemberg, die einen begleitenden Radweg besitzen, aktuell nur bei zirka 15 Prozent. Da auch Städte und Gemeinden ein Interesse daran haben, den motorisierten Individualverkehrs in Richtung Radverkehr zu verlagern, sind schnelle Maßnahmen gefragt. Diese sollten den Bedürfnissen der Radfahrenden, gegenüber denen der Autofahrenden gerecht werden. Erst kürzlich wurde der Fahrradklima-Index des ADFC, der Zufriedenheits-Index der Radfahrenden in Deutschland, veröffentlicht. Während in Deutschland die Großstädte fahrradfreundlicher werden, gibt es gerade auf dem Land Nachholbedarf. Eine nur mittlere Gesamtnote zeigt, wie viel noch zu tun ist – gerade, wenn man auch die zunehmende Abwanderung in die Vorstädte (FAS, 07.05.23) betrachtet.
Baden-Württemberg ambitioniert: Bedarfsplan für Radwege
Die Landesverwaltung Baden-Württemberg hat sich schon länger ambitionierte Ziele für die Verschiebung des Modal Splits vom motorisierten Individualverkehr zum Umweltverbund gesetzt. Das Ziel: Bis zum Jahr 2030 sollen die Bürgerinnen und Bürger des Bundeslandes 20 Prozent ihrer Wege mit dem Rad zurücklegen und dafür 2.000 Kilometer an neuen Radwegen nutzen können. Vor diesem Hintergrund erkannte die Landesregierung den Bedarf an überregionalen Fahrradstrecken. So beauftragte sie im Juni 2020 die PTV Transport Consult GmbH und das Institut für Straßen- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart mit der Erarbeitung eines Bedarfsplans für Radwege an ihren Bundes- und Landesstraßen.
Bedarfsplan Radwege als Vorzeigemethodik
In einem ersten Schritt erstellten die Projektbeteiligten ein integriertes, durchgängiges Netz: aus dem Straßennetz, dem bereits definierten, grobmaschigerem „RadNETZ Baden-Württemberg“ und den von Radfahrenden genutzten Freizeitstrecken. Zusätzlich kamen Informationen zur Topografie und wichtigen Zielen wie Schulen und Arbeitsplatzstandorte hinzu. Die Projektteilnehmer*innen klassifizierten anschließend alle Verbindungswege nach dem sog. System der zentralen Orte und ermittelten für jede Verbindung konkrete Radverkehrsrouten. Aufbauend auf diesem Netz erfolgte die Bestimmung des erwarteten Radverkehrsaufkommens. Ein zentraler Punkt bildete die Ermittlung besonders unfallträchtiger Streckenabschnitte für den Radverkehr anhand von Unfalldaten.
In der letzten Phase identifizierten die Projektteilnehmer*innen die Strecken, die aufgrund des Radverkehrspotenzials, der Kfz-Belastungen und mangels attraktiverer Alternativen einen straßenbegleitenden Radweg benötigten. Über eine Befragung flossen auch die Erfahrungen und Kenntnisse der einzelnen Kreise in die Auswahl und Priorisierung der Ausbauprojekte ein.
Bedarfsplan Radwege nominiert für deutschen Fahrradpreis
Verena Zeidler, am Projekt beteiligte Ingenieurin kennt sich in der Netzplanung für Fahrradwege aus. „Abgesehen von touristisch erschlossenen Orten gibt es in vielen Teilen Deutschlands keine flächendeckende regionale Netz- und Ausbauplanung für den Alltagsradverkehr. Dies führt zu fehlenden Verbindungen im Radverkehrsnetz, vor allem zwischen kleinen und mittleren Städten“, erklärt sie. „Die modellbasierte Methodik, die wir in Baden-Württemberg angewendet haben, lässt sich aber überall anwenden – auch in anderen Ländern.“ Ihr Kollege und Projektleiter Jan Malik ergänzt: „Der besondere Moment bleibt für mich, dass das theoretisch erarbeitete Verfahren zum Finden von Netzlücken in der Praxis funktioniert und einfach hochwertige Ergebnisse liefert.“ Entsprechend folgerichtig erscheint daher die aktuelle Nominierung des Bedarfsplans Radwege für den Deutschen Fahrradpreis. Die Beteiligten fiebern der Preisverleihung am 20. Juni 2023 schon entgegen.
Vorreiter in Sachen Bedarfsplan Radwege
Malik resümiert: „Wir sind Vorreiter: In einer wirklich guten Zusammenarbeit mit dem Verkehrsministerium und der Universität Stuttgart haben wir ein Verfahren entwickelt, dass eine komplette Netzbetrachtung erlaubt. Wir können jetzt landesweit Netzlücken definieren und den Bedarf an interkommunalen Radwegen priorisieren. Modellbasiert und durchgängig.“ Mit dem Bedarfsplan steht zudem eine landesweite Modellgrundlage für den Radverkehr zur Verfügung, die mehr Informationen zu radverkehrsrelevanten Einflussfaktoren auf Verkehrsmittel- und Routenwahl beinhaltet als die meisten Modelle. Angesichts der zunehmenden Zahl von E-Bikes, die auch von Jugendlichen für längere Strecken genutzt werden, ein sinnvolles und zukunftsweisendes Vorgehen. Zeidler weiß: „Eine Fahrradinfrastrukturplanung auf Basis regionaler Netze hilft uns allen, dieses Potenzial für eine nachhaltigere Mobilität zu erschließen.“
Hintergrundinformation
- Fahrradfreundliche Städte mit Verkehrssimulation
- Digitale Technologie schützt Menschenleben im Verkehr
- FeGiS+, ein Forschungsprojekt für proaktive Verkehrssicherheitsarbeit
- Schon gewusst?
Für die Erstellung eines Radschnellweges in Baden-Württemberg bedarf es eines Nutzungspotenzials von täglich mindestens 2.000 Radfahrenden im Schnitt.