Vision Zero, das Ziel, dass es im Straßenverkehr keine Getötete oder Schwerverletze mehr gibt, steht hinter dem europäischen Verkehrssicherheitsprogramm. Von 2011 bis 2020 erreichten jedoch nur wenige Länder das Zwischenziel, die Gesamtzahl der Verkehrsunfalltoten um 50 Prozent zu reduzieren. Auch Deutschland verfehlte das selbst gesteckte Ziel, für diesen Zeitraum bundesweit die Verkehrsunfalltoten um 40 Prozent zu senken. Nach der verringerten Mobilität der Bevölkerung im Pandemie-Jahr 2020 sind 2021 nach vorläufigen Zahlen der EU-Kommission mit knapp 20.000 Menschen rund 1.000 Menschen mehr als im Vorjahr durch Verkehrsunfälle in der Europäischen Union gestorben. Handlungsbedarf ist dringend geboten. Mit dem Forschungsprojekt FeGiS+ schlägt die Verkehrssicherheitsarbeit länderübergreifend dabei nun neue – datenbasierte – Wege ein.

Verkehrssicherheitsarbeit neu gedacht: FeGiS+

Alexander Dahl, PTV Group, steht für die bessere Nutzung bestehender sicherheitsrelevanter Daten sowie die Erschließung neuer Datenquellen.
Alexander Dahl, PTV Group, steht für die bessere Nutzung bestehender sicherheitsrelevanter Daten sowie die Erschließung neuer Datenquellen.

Ursachen für die wieder steigende Anzahl an Verkehrstoten sind sowohl das erhöhte Verkehrsaufkommen, aber auch Stress im Alltag oder zunehmende Ablenkung. So schätzen die Fahrer*innen Gefahrensituationen oft nicht richtig ein oder erkennen sie zu spät.

Genau hier setzt das Forschungsprojekt FeGiS+ an. Der Titel steht für die ‚Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr durch Smart Data‘. Ziel des Forschungsprojekt ist es, Frühindikatoren sichtbar zu machen, also Risiken und Gefahrenpotenziale im Straßenverkehr frühzeitig zu identifizieren und durch rechtzeitige Warnung oder Präventionsmaßnahmen Verkehrsunfälle zu vermeiden. „Dies möchten wir über die bessere Nutzung bestehender sicherheitsrelevanter Daten sowie die Erschließung neuer Datenquellen erreichen“, erklärt Alexander Dahl, Projektleiter und Manager Research bei der PTV Group, „wir erstellen dafür gemeinsam mit unseren Projektpartnern eine integrierte Datenplattform, die als Datenbasis eine proaktive Verkehrssicherheitsarbeit auf allen Ebenen ermöglicht.“ Das Projekt wird im Rahmen des Modernitätsfonds ‚mFUND‘ durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert und durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Partner aus Initiative für sichere Straßen (Projektkoordinator), Wissenschaft (RWTH Aachen, Deutsche Hochschule der Polizei) und Verkehrsplanung (PTV Group, DTV Verkehrsconsult) getragen.

Smart Data: neue Datenquellen für proaktive Verkehrssicherheit

Bisher wurden amtliche Unfalldaten gesammelt und analysiert. Neu ist die Ergänzung durch Datenquellen speziell für eine proaktive Verkehrssicherheitsarbeit: Alle Verkehrsteilnehmenden können selbst über die Melde- und Informationsplattform www.gefahrenstellen.de auf Gefahren im Verkehr hinweisen, diese kommentieren und bebildern. Die Angaben laufen als sogenannte userbasierte Gefahrenmeldungen ein. Zum anderen dienen Beschleunigungsdaten aus Kraftfahrzeugen, sogenannte Impulsdaten, der Erfassung von sicherheitskritischen Fahrmanövern. Diese beiden Datentypen werden zusammen mit den amtlichen Unfalldaten aufbereitet und künftig als Smart Data netzweit zur Verfügung gestellt. Inga Luchmann, Senior Project Managerin bei der PTV Group, berichtet von PTV-Projekt-Beitrag: „Besonders spannend war die Analyse der vielfältigen Wünsche und Anforderungen der Zielgruppen hinsichtlich einer integrierten Plattform. Aber auch, wie das Projektteam diese Ideen im Rahmen des Vorhabens umsetzen konnte. Wichtig war uns Partnern dabei, einen langfristigen Ansatz zu entwickeln, der einerseits über den Projektzeitraum hinaus fortdauern kann, andererseits möglichst auch über die Grenzen Deutschlands hinaus übertragbar ist.“

Inga Luchmann, PTV Group
Inga Luchmann, PTV Group: "Wir entwickeln Designkonzepte für Straßenräume."

Basis Feature: deutschlandweit gewichtete Gefahrenstellenkarte

Durch die Verschneidung und Analyse der gesammelten Daten lassen sich Gefahrenstellen identifizieren, im Detail analysieren und über einen ‚Gefahrenscore‘ gewichten. Luchmann erläutert: „Dabei geht es darum, die Daten zu Unfall- und Gefahrenstellen in einem abgestimmten Format bzw. Standard so aufzubereiten, dass diese datenschutzkonform, leicht verständlich und für weitere Anwender nutzbar sind. Kommunen wünschen sich eine systematische Zusammenführung verschiedener Datentypen zu einer aggregierten Gefahrenbewertung. Versicherungen wie auch die Wissenschaft befürworten verschiedene Filtermöglichkeiten zur Auswertung der Daten. Beides konnte das Konsortium entwickeln und umsetzen.“

Im Ergebnis wird für jeden Straßenabschnitt und Knotenpunkt u. a. die Höhe einer Unfallgefahr sichtbar. Durch Heranziehen weiterer Daten, wie z. B. Wetterdaten, lassen sich zusätzlich besondere Einflussfaktoren für die Gefahrenstellen definieren. Eine deutschlandweite Gefahrenstellenkarte veranschaulicht anschließend als Basis Feature die Ergebnisse – und stellt damit einen wichtigen Baustein für die Gefahrenstellenanalyse und proaktive Unfallvermeidung dar.

Datensammeln für einen guten Zweck

„Datenverwendung und Datenauswertung sind in Deutschland ein schwieriges und ressourcenintensives Thema“, sagt Luchmann. „Das Projekt greift den allgemeinen Trend in der Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland und Europa auf, nicht mehr einfach nur auf Unfalldaten zu reagieren, sondern proaktiv tätig zu werden. Diese proaktive Identifizierung von Gefahrenstellen braucht neue Verfahren – und zusätzliche Daten. Der FeGiS-Ansatz macht zudem einen unmittelbaren Abgleich subjektiver Bürger*innen-Meldungen zu objektiven Unfalldaten möglich.“ Neben den Verkehrsteilnehmenden unterstützt das Projekt vor allem die Akteur*innen in der Verkehrssicherheitsarbeit wie Kommunen, Polizeibehörden, Verkehrsplanungsbüros und Forscher bei ihrer Entscheidung über geeignete Präventionsmaßnahmen. Gleichzeitig reduziert der öffentliche Dialog über die Gefahrenstellen-App wiederkehrende Anfragen zu bestimmten Gefahrenstellen. Die App ermöglicht die Beteiligung der Bürger*innen z. B. an der Verkehrswege- und Schulwegeplanung und fördert insgesamt durch den Dialog die Akzeptanz getroffener Maßnahmen.

Crowdsourcing: erfolgreiche proaktive Unfallvermeidung

Der erste Test der Crowdsourcing-Plattform gefahrenstellen.de in den Jahren 2017 bis 2018 verlief erfolgreich. Der Fokus lag dabei auf den Städten Bonn und Aachen. Aufgrund der umfangreichen Berichterstattung in Tageszeitungen, Onlineportalen, Radio und TV wurden in einem halben Jahr insgesamt 1.500 Gefahrenmeldungen mit rund 3.500 Unterstützern für die beiden Städte erfasst. Eine anschließende Begutachtung und Analyse durch die RWTH Aachen bestätigte die Qualität und Relevanz der Meldungen. Neben der Identifizierung von bereits bekannten Unfallschwerpunkten meldeten die Verkehrsteilnehmer auch Gefahrenstellen, die bis dahin noch nicht durch Unfälle auffällig geworden waren, aber bei Ortsbegehungen ein hohes Risikopotenzial aufzeigten. Diese Form des Crowdsourcings ließ sich damit als valide Methode zur Früherkennung von Gefahrenstellen bestätigen.

Ausschnitt Gefahrenscore Berlin
Berlin: mit einem Score gewichtete Gefahrenstellen in der Hauptstadt.

Gefahrenscore: Integration in Verkehrsmodelle

Dahl resümiert: „Mit FeGiS+ sind wir auf einem guten Weg in Richtung proaktiver Verkehrssicherheitsarbeit und Unfallvermeidung. Der Projektansatz ist grundsätzlich für verschiedene Anwendungsfälle offen und auch für unterschiedliche Zielgruppen von Interesse.

Dadurch konnten wir im Konsortium auf die Wünsche der Nutzer*innen reagieren und die Plattform bzw. App anwendergerecht gestalten. Für die PTV Group prüfen wir derzeit die Integration von Gefahrenscore-Karten in Verkehrsmodelle, die auf Basis von PTV Visum erstellt wurden und zeigen unseren Kunden darüber weitere Möglichkeiten zur Analyse ihrer Netze im Bereich der Verkehrssicherheit auf. Im Ganzen war es auch für mich persönlich ein sehr erfüllendes Projekt.“

Hintergrundinformationen

Straßenverkehrstechnik: Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr durch Smart Data – FeGiS+
Ehlers, Jörg; Kathmann, Thorsten; Heel, Emanuel von; Sutter, Christine; Bode, Tina; Luchmann, Inga; Dahl, Alexander; Grahl, Michaela

Verkehrssicherheitsarbeit und Forschung bei der PTV Group

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