Das 9-Euro-Ticket bewegt diesen Sommer Deutschland: Seit dem Start vor einem Monat wurden bereits mehr als 21 Millionen Tickets verkauft. Die Züge sind voll und die Menschen zeigen sich bereit, vermehrt öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Schon werden Rufe nach einem 365-Euro-Jahresticket oder einem gänzlich kostenlosen ÖPNV laut. Doch was braucht es, damit mehr Menschen dauerhaft das Auto zu Gunsten von Bus und Bahn stehen lassen? Wie wird der öffentliche Nahverkehr tatsächlich attraktiver?
Ein starker öffentlicher Nahverkehr gilt als Rückgrat einer nachhaltigen Mobilität der Zukunft, ohne den die Verkehrswende nicht zu schaffen ist. So geben laut einer Umfrage der City Moonshot Initiative, 79 % der Städte weltweit eine Verbesserung des öffentlichen Verkehrssystems als ihre Top-Priorität in Sachen Mobilität an. Und das vor allem auch, weil der öffentliche Verkehr in der Coronakrise mit geringen Fahrgastzahlen gelitten hat.
Das 9-Euro-Ticket zeigt Wirkung. Für Juli bleibt die Nachfrage hoch: Allein die Berliner Verkehrsbetriebe vermelden schon 150.000 verkaufte Fahrkarten für diesen Monat. Die Deutsche Bahn zieht ebenfalls eine erste positive Bilanz. Die Fahrgastzahlen hätten sich spürbar, um bis zu 30 Prozent erhöht – sowohl an den Wochenenden als auch in der Woche. Die Züge seien gut gefüllt, das befürchtete Chaos weitgehend ausgeblieben.
Macht der Ticketpreis also den Unterschied? Müsste man den ÖV generell nur günstig oder sogar gratis machen, und die Verkehrswende wäre eine gemachte Sache?
Rimbert Schürmann ist ÖV-Experte bei der PTV Group und berät Verkehrsunternehmen bei der zukunftsfähigen Gestaltung der öffentlichen Verkehrssysteme. Er weiß aus Erfahrung, dass es nicht ganz so einfach ist: „Ein günstiger Ticketpreis kann ohne Frage ein Anreiz für die ÖV-Nutzung sein – oftmals aber nicht für die, die man zum Umsteigen bewegen will: die Autofahrer*innen.“
Ein Beispiel dafür ist Tallin. In der estnischen Hauptstadt hat die Einführung des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs 2013 nicht zu einer Verringerung der Autofahrten geführt. Die Zahl der ÖPNV-Nutzer*innen ist zwar gestiegen, aber immer noch wird mehr als die Hälfte aller Fahrten zur Arbeit mit dem Auto zurückgelegt.
„Vor allem Pendler*innen sind nur schwer von ihren langjährigen Mobilitätsgewohnheiten abzubringen. Das sieht man auch jetzt beim 9-Euro-Ticket, das vor allem stark im Freizeitverkehr genutzt wird“, erklärt Rimbert Schürmann. „Häufig ist ein mangelndes ÖV-Angebot der Grund. Für viele ist das Pendeln mit dem Auto dank Firmenwagen oder Parkplatz vor der Türe aber auch schlichtweg einfach bequemer.“
Was sind also die ausschlaggebenden Faktoren, um die Öffis so attraktiv zu machen, dass mehr Menschen vom Auto umsteigen?
ÖPNV-Angebot massiv ausbauen
Eine Studie des Mobility Institute Berlin in elf deutschen Großstädten kam zu dem Schluss, dass das Auto heute meistens immer noch die schnellste Wahl ist. So war die Reisezeit auf den untersuchten Strecken im ÖV im Schnitt doppelt so lang wie eine entsprechende Autofahrt.
„Im Prinzip wollen wir alle möglichst einfach, bequem und schnell von A nach B kommen. Wenn ich mit dem Bus mehr als doppelt so lange für eine Strecke brauche wie mit dem Auto, häufig Umsteigen muss, oder zu einer gewissen Uhrzeit keine Verbindung mehr habe, ist klar, dass ich mich fürs Auto entscheide,“ so Rimbert Schürmann.
Das bedeutet, dass das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs – vor allem auch auf dem Land – massiv und am besten flächendeckend ausgebaut werden muss. In Baden-Württemberg sieht das Konzept “Mobilitätsgarantie” beispielsweise vor, dass ab 2030 alle Orte von 5 Uhr früh bis Mitternacht mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar sein sollen. Und zwar in Ballungsräumen im 15-Minuten-Takt und im ländlichen Raum mindestens im 30-Minuten-Takt.
Dafür muss die Infrastruktur entsprechend ausgebaut werden. Da Straßenbahn-, Stadtbahn- und U-Bahn-Projekten ein längerer Planungsprozesse vorangehen, spielt hier der Busverkehr und dessen Elektrifizierung eine wichtige Rolle. Kapazitätserweiterungen und zusätzliche Angebote im Busverkehr können vergleichsweise schnell zu einem leistungsfähigeren ÖPNV beitragen.
Eine weitere Option ist die Reaktivierung von stillgelegten Bahnstrecken. So untersuchten die Berater*innen der PTV Group in einer Studie für das Land Baden-Württemberg 42 stillgelegte Bahnstrecken hinsichtlich ihres Fahrgastpotenzials.
„Um einschätzen zu können, wie sich die Nachfrage in Zukunft entwickeln wird, kam ein Verkehrsmodell zum Einsatz“, erzählt Rimbert Schürmann.
Verkehrsmodellierungen und Simulationen sind generell wertvolle Werkzeuge, wenn es um eine zukunftssichere Planung des öffentlichen Verkehrs geht. Im digitalen Umfeld lassen sich verschiedene Zukunftsszenarien und Fragestellungen betrachten. Wie verändert sich der Mobilitätsbedarf in meiner Stadt in Zukunft? Wie und wo sollte das Liniennetz erweitert werden? Wo werden neue Haltestellen benötigt? Welche Taktung bedient die Nachfrage und schafft ein attraktives Angebot?
Der PTV-Experte dazu: „Verkehrsmodelle unterstützten Planer*innen in der nachfragebasierten und serviceorientierten ÖV-Netz- und Angebotsplanung für alle Arten von öffentlichen Verkehrsmitteln – egal Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen, oder Züge.“
ÖPNV mit anderen Verkehrsmitteln verknüpfen
Die Menschen entscheiden zunehmend situativ, wie sie am besten an ihr Ziel kommen. Vor allem im urbanen Raum stehen ihnen dazu zahlreiche Mobilitätsangebote zur Verfügung: Bei gutem Wetter mit dem Fahrrad ins Büro, bei Regen mit Bus und Bahn, mit dem Car-Sharing zum Wochenende-Ausflug oder mit dem E-Roller die letzten Meter bis zum Ziel. Eine gute Vernetzung des ÖPNV mit anderen Mobilitätsdiensten ist unabdingbar. Damit Nutzer*innen möglichst bequem von der Bahn aufs Carsharing-Auto oder Leihfahrrad wechseln können, braucht es möglichst kurze Weg – zum Beispiel durch Mobilitätshubs, an denen die verschiedenen Verkehrsmittel gebündelt zur Verfügung stehen.
„Genauso wichtig ist zudem eine lückenlose digitale Vernetzung dieser verschiedenen Service und Buchungsvorgänge in einer einheitlichen App“, so Rimbert Schürmann. „So können Nutzer*innen einfach, schnell und flexibel entscheiden, wie sie in der jeweiligen Situation am besten von A nach B kommen.“
Dazu gehört zudem eine gute Vernetzung des öffentlichen Nahverkehrs mit aktiven Modi wie Fuß- und Radverkehr. So wird zum Beispiel der Kombination von Fahrrad und Bahn großes Potenzial zugeschrieben, wenn es um nachhaltiges Pendeln geht. Ein gut ausgebautes und sicheres Netz an Rad- und Radschnellwege macht die Bike + Ride Kombi attraktiv. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Rolle, die das Thema Fahrradparken spielt. Sichere und gut erreichbare Fahrradabstellanlagen sind eine Voraussetzung dafür, dass mehr Menschen in Zukunft mit dem Rad und der Bahn pendeln.
„Das zeigt, wie wichtig eine ganzheitliche Betrachtung des gesamten Mobilitätsökosystems ist, um unsere Mobilität nachhaltig zu gestalten“, sagt der PTV-Berater Schürmann. „Das gilt besonders auch im Hinblick auf zukünftige Technologien wie autonome Fahrdienste. Dafür sollten schon frühzeitig die passende Rahmenbedingung geschaffen werden, damit autonomes Fahren nicht zu einer Belastung des städtischen Verkehrs führt, sondern als Teil eines autonomen Sharing- und Service-Systems den ÖPNV stärkt und komplementär unterstützt.“
Zu diesem Schluss kommt auch eine Studie in der schwedischen Stadt Göteborg, die sich mit den Auswirkungen von autonomen Diensten auf den öffentlichen und gesamten städtischen Verkehr beschäftigte.
Komfort erhöhen
Verspätete Züge und Busse, Ratlosigkeit vor dem Fahrkartenautomaten, welches Ticket das richtige ist, schmuddelige Haltestellen – als ÖPNV-Nutzer*in ist man einiges gewohnt.
Neben dem Angebot und der Verbindungsqualität, sind auch weitere Aspekte für die Attraktivität von öffentlichen Verkehrsmitteln entscheidend: Der Fahrzeugkomfort etwa oder ein kundenfreundlicher Service mit übersichtlichen Fahrkartensystemen und einer guten Fahrplanauskunft – am besten in Echtzeit.
Autofahren unattraktiver machen
Neben diesen bisher genannten Pull-Maßnahmen, die das Angebot im öffentlichen Nahverkehr erweitern, verbessern und attraktiver machen, gibt es einen weiteren wichtigen Hebel, um zu einem Mobilitätswandel beizutragen.
Rimbert Schürmann: „Damit mehr Menschen das Auto stehen lassen, muss Autofahren unattraktiver werden. Solche Push-Maßnahmen können beispielsweise kostenpflichtige Parkplätze oder Beschränkungen der Zufahrt oder Geschwindigkeit oder das Einführen einer City-Maut sein. Solche Maßnahmen sind meist erstmal unbeliebt, sie tragen aber dazu bei, dass andere Modi attraktiver werden und Menschen ihr Mobilitätsverhalten ändern. Und das brauchen wir, wenn die Verkehrswende gelingen soll.“