Drohen die Zentren unserer Städte zu veröden? Galeria Kaufhof, die letzte große deutsche Warenhauskette macht um die 50 Standorte dicht, wertvolle, große Immobilien stehen damit bald leer und vergrößern die ohnehin schon hohen Leerstände. Gleichzeitig verstopfen Kleintransporte und große Privatfahrzeuge die Stadtstraßen und Gehwege werden mit Elektrorollern zugestellt. Während der Handel seine dominierende Rolle als Anziehungspunkt in der Stadtmitte verliert, gewinnen Kultur, Freizeit, Arbeit und Wohnen – aber auch der Klimaschutz – an Bedeutung. Daher braucht es attraktive Zentren, die nachhaltige Nutzungsvielfalt bieten – und dabei jede Art von Mobilitätsbedürfnissen berücksichtigen: kurz die Transformation urbaner Zentren vor dem Hintergrund moderner Mobilität.
Die Prognose: Veränderung von Verkehr und Mobilitätsverhalten
Die Langfrist-Verkehrsprognose des BMVD macht deutlich: Der Verkehr in Deutschland wird ohne einschneidende Maßnahmen bis ins Jahr 2051 deutlich zunehmen. Besonders stark im Güterbereich, aber auch der Personenverkehr um 13 Prozent auf fast 1.400 Milliarden Personenkilometer. Während der Radverkehr laut der Trendprognose um 36 Prozent zulegen soll, bleiben Auto und Motorrad mit Abstand das beliebteste Fortbewegungsmittel der Deutschen. Die Schlussfolgerungen aus der Verkehrsprognose gehen in Politik und Wirtschaft auseinander. Fest steht jedoch: Weil der Bedarf an Mobilität weiter zunehmen wird, müssen die Stadt- und Verkehrsplaner proaktiv reagieren. Es geht nicht mehr nur um ein anderes Einkaufsverhalten: um die Innenstädte attraktiv und lebenswert zu machen, gilt es, ein entsprechendes Mobilitätskonzept aufzubauen – das gleichzeitig nachhaltig ist.
Der Ist-Zustand: Smart City oder Optimierungspotenzial
Doch wie smart sind Städte in Bezug auf das Thema Mobilität? Der Branchenverband Bitkom hat im Rahmen seines „Smart City Index 2022“ Deutschlands Städte unter die Lupe genommen. Die Auswertung des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PwC ergab lt. automotiveIT eine tiefe Kluft: Metropolen mit mehr als einer halben Million Einwohner haben im Regelfall einen hohen Indexwert in Bezug auf die Mobilität; kleinere Städte mit weniger als 200.000 Einwohnern einen geringen – und daher viel Potenzial, das Mobilitätskonzept an eine digitalere Zukunft und an neue Herausforderungen anzupassen. Nürnberg, die Stadt mit dem höchsten Index-Wert wird z. B. für seine NürnbergMobileApp gelobt: Diese bündelt alle Fortbewegungsmöglichkeiten in der Region in einer Anwendung. Weil grundsätzlich eine große Bereitschaft der Menschen besteht, ihre Mobilitätsdaten für das Erreichen besserer Mobilitätsangebote zur Verfügung zu stellen, stehen die Stadtverwaltungen vor der Herausforderung, diese auch zu nutzen.
Das Mittel: Der Mobilitätsmasterplan für alle Bedürfnisse
Pforzheim steht mit gut 125.000 Einwohnern zu den Städten mit Optimierungspotenzial – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der auch hier geplanten Schließung des Warenhauses Galeria Kaufhof. Die Stadtverwaltung hat jedoch schon vorausschauend begonnen, sich über die Transformation ihres Zentrums Gedanken zu machen: Seit 2021 ist sie Teil des vom Bundesinnenministerium aufgesetzten Förderprogramms „Modellprojekt Smart City“ mit dem Ziel, den digitalen Wandel aktiv mitzugestalten und die hieraus entstehenden Potenziale für die Bevölkerung zu nutzen. Um den Rahmen für die nachhaltige städtische Mobilitätsentwicklung bis 2035 zu definieren, ließ sie einen „Integrierten Mobilitätsentwicklungsplan“ (IMEP) erstellen. „Beim IMEP geht es grundsätzlich es um Lösungen für die zunehmenden und sich verändernden Mobilitätsbedürfnisse bei gleichzeitiger Stärkung der Aufenthaltsqualität und damit der Attraktivität der Stadt“, erklärt Christoph Schulze, Fachgebietsleiter Verkehrsplanung und -technik beim beauftragten Dienstleister PTV Transport Consult. „Dabei ist es sehr wichtig, die Verkehrsarten nicht isoliert zu betrachten. Eher: Welche Mobilitäts-Bedürfnisse haben die Menschen, wie lassen sich diese am besten befriedigen. Oft ist in den Köpfen der Anwohner noch verankert, dass jedes Ziel mit dem Auto erreichbar sein muss. Es braucht daher Angebote für alle Verkehrsmittel.“
Die Durchführung: Nutzende und Betroffene der Transformation
Die Bewertung der vorhandenen Mobilitätsangebote markierte den Beginn des Projekts: Wie ist die Verkehrsmittelverteilung, wie verteilt sich der PKW-Besitz in Pforzheim, welche Carsharing-Angebote gibt es? Im zweiten Schritt galt es, die Ziele für die Mobilitätsentwicklung verbindlich festzuschreiben: natürlich das Erreichen der Vision Zero, aber auch die Erhöhung der Aufenthaltsqualität, die Reduzierung der Verkehrsbelastung und mehr alternative Verkehrswegenutzung im Sinne einer lebenswerten und integrativen Stadt.
Weil die Stadtverwaltung „insbesondere auch das lokale Wissen über die Belange vor Ort gewinnbringend in die Planung“ einbringen wollte, fand eine groß angelegte mehrstufige Beteiligung von Verwaltung, Politik, Interessenvertretungen und Bevölkerung statt. Sie ergab eine besonders hohe Priorisierung des Rad- und Fußverkehrs. Aber auch beim Thema Parken sieht jede/jeder Dritte dringenden Handlungsbedarf. Als Leitplanken der Transformation setzt die Verwaltung nun auf die konsequente Förderung des Rad- und Fußverkehrs sowie auf den Ausbau des ÖPNV. „Dabei ist natürlich ein Umdenken erforderlich“, meint Schulze, „künftig muss die Prämisse sein, Straßenräume von außen nach innen zu planen. Sichere und attraktive Wege für die schwächsten Verkehrsteilnehmenden – den Fuß- und Radverkehr – müssen die gleiche Priorität haben wie die Infrastruktur für den motorisierten Verkehr.“ Was dem einen Verkehrsteilnehmenden nutzt, z. B. der breit ausgebaute Radweg, kann den anderen, der vielleicht direkt vor dem Ärztehaus parken muss, auch behindern. Daher wird eine für alle Nutzenden optimierte Straßenraumgestaltung nicht nur bei der Stadt Pforzheim im Fokus stehen.
Das Ziel: eine klimaneutrale, lebenswerte, soziale Stadt
Der Gemeinderat der Stadt Pforzheim hat im November 2022 den Mobilitätsentwicklungsplan im Gemeinderat beschlossen. Er bildet nun den strategischen Leitfaden für die Verwaltung und die Basis der Verkehrsplanung der kommenden Jahre. Im Sinne der Bevölkerung und weil das Land Maßnahmen, die dem Klimaschutz dienen, besonders fördert, entwickeln die Verkehrsexperten den Mobilitätsentwicklungsplan nun zu einem Klimamobilitätsplan weiter. Sie definieren konkrete Maßnahmen mit dem Ziel, die verkehrsbedingten CO2-Emissionen um 55 Prozent zu reduzieren. Schulze ist gespannt: „In der Vergangenheit war die Verkehrsplanung in Pforzheim sehr auf den Autoverkehr ausgerichtet. Jetzt besteht für die Stadtverwaltung die Chance, das auszugleichen. Aber nicht als Beschneidung des bestehenden Mobilitätsverhaltens, sondern mit guten Argumenten für neue Mobilitätslösungen: Man kommt nach wie vor von A nach B. Auch mit dem Auto. Aber es gibt attraktive Alternativen – die gleichzeitig die eigene Stadt lebenswerter, klimaneutral und sozialer machen.“
Hintergrundinformationen
- Verkehrssicherheit durch digitale Technologie
- Forschungsprojekt FeGiS+ ein Projekt für proaktive Verkehrssicherheitsarbeit