In der aktuellen weltweiten Krisensituation sind wir täglich gefordert, unsere bestehenden Denkmuster zu hinterfragen und neuen Ideen Raum zu geben. Wie schaffen wir das? Indem wir neue, nie für möglich gehaltene Szenarien durchspielen, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Wer von uns hätte gedacht, dass wir uns z. B. angewöhnen müssen, auf Abstand zu unseren Mitmenschen zu gehen? Mit Fußgängersimulationen lassen sich anschaulich Situationen mit und ohne Social Distancing virtuell planen und durchspielen. Neue Mobilitätsszenarien für die Zukunft unserer Städte können so in unseren Köpfen leichter Gestalt annehmen.
Der Mensch wird auch in der Corona-Krise erfinderisch sein
Not macht erfinderisch – auch im Umfeld Mobilität. So tüftelte beispielsweise der Erfinder Karl Drais nach den napoleonischen Kriegen, die bis 1815 in Europa gewütet haben, daran, wie der Mensch auch ohne Pferd (die gab es nach den Kriegen kaum mehr) seinen Radius erweitern kann. So hat er das Laufrad erfunden.
Heute erproben wir neue Ansätze und Verfahren, um mit den durch die Coronakrise hervorgerufenen Unwägbarkeiten besser klar zu kommen.
Gehwege als Einbahnstraßen für Fußgänger?
Was zuerst absurd erscheint, ist plötzlich eine ernsthafte Überlegung wert. Zum Beispiel: Ist es sinnvoll, Einbahngehwege zu gestalten, damit es weniger zwischenmenschliche Kontakte und damit weniger Übertragungsmöglichkeiten von Covid-19 gibt? Die augenscheinliche Antwort ist ja, da dann kein Gegenverkehr mehr stattfindet. Wie viel bringt das und ab wann? Der größte Effekt stellt sich ein, wenn sich alle Fußgänger*innen im richtigen Abstand gleichschnell bewegen und auf Überholvorgänge verzichten würden. Das Modell zeigt auch, dass der Fußverkehr ohne Gegenverkehr insgesamt schneller vorankommt – eine Überlegung, die damit auch ohne Corona von Interesse für Städte ist.
Die Schlange vor dem Supermarkt
Unsere bestehenden Gebäude und Infrastrukturen sind nicht dafür konzipiert, dass Besucher*innen einen bestimmten Abstand zueinander einhalten. So ergeben sich ungeplante Warteschlagen, in denen sich Menschen und Autos in kritischen Bereichen ballen und nie zuvor dagewesene Staus produzieren. Mit Simulationssoftware lassen sich verschiedene neue Szenarien im Umgang mit Fiebermessstationen und Eingangsregelungen für Supermärkte virtuell planen und durchspielen.
Waggons im ÖV nach Zielhaltestelle zuweisen
Verkehrsplaner sind auch dabei gefordert, die Angebote im öffentlichen Nahverkehr an die aktuellen Rahmenbedingungen anzupassen. Sie haben die Herausforderung, mit auftretenden Nachfrageschwankungen gut klar zu kommen oder auch sinnvolle Maßnahmen zu planen, die den Anforderungen des Social Distancing gerecht werden.
So hat Dr.-Ing. Klaus Bogenberger, Professor für Verkehrstechnik an der TU München, bei den Modellierungsexperten der PTV folgende aktuelle Anfrage gestellt: „Mich interessiert, ob die PTV-Software auch die Auswirkung simulieren kann, wenn Tram- und U-Bahn-Waggons jetzt nach Zielstationen befüllt würden, um Gehflächen einsparen zu können bzw. um die Zahl der Passagen, die kleiner als zwei Meter sind, zu verringern.“
Dazu wird jetzt die Idee untersucht, dass Fährgäste bereits am Gleis und schon vor dem Einstieg so an die Eingangstüren der Tram oder des Zuges gelotst werden, dass sie in den Wagons gemäß Zielstation sortiert einsteigen und transportiert werden.
Konfliktfelder neu denken
Die aktuelle Ausnahmesituation ist auch eine große Chance, uns auf die aktuelle wie kommende Situationen gedanklich vorzubereiten. Nur so können wir uns für den nächsten Erreger oder unvorhergesehenen Vulkanausbruch wappnen, der unseren Bewegungsradius einschränkt und besondere Regeln im Umgang miteinander mit sich bringt.
Vielleicht können wir die Zeit jetzt nutzen, um aktuelle Themen und neue Konfliktfelder neu zu durchdenken und eine lebenswerte Zukunft mit einer für alle lebensfreundlichen Mobilität zu entwerfen?