Man fährt nicht mehr, man steht im Stau. In vielen deutschen Großstädten ist es fast unmöglich mit dem Auto, „schnell mal wo hin“ zu kommen. Besonders angespannt ist die Situation in Hamburg. Laut dem „TomTom Traffic Index“ standen die Hamburger 2019 durchschnittlich 131 Stunden pro Einwohner im Stau. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Skala nach oben weit offen ist: Bogotá (Kolumbien) kommt auf 191 Staustunden im Jahr, Rio de Janeiro (Brasilien) auf 190 und Rom auf 166 Stunden.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind mannigfaltig: Steigende Pkw-Zahlen, die mangelnde Synchronisierung der Lichtsignalanlagen, unvorhergesehene Ereignisse (Unfälle, etc.) oder witterungsbedingte Widrigkeiten haben großen Einfluss auf den Verkehrsfluss. Einer der größten Faktoren ist jedoch kalkulierbar: Baustellen und ihre Planung. In Hamburg gibt es pro Jahr 25.000 geplante Baustellen (Referenzjahr 2019). Davon werden allein 3.700 auf dem Hauptstraßennetz durchgeführt und betreffen so einen Großteil der Pendler.
Um die Problematik der vielen Staus für Deutschland anzugehen, haben sich Vertreter der Bundesregierung, Bundesländer und Kommunen am 28. November 2017 auf Eckpunkte eines Sofortprogramms „Saubere Luft“ zur Verbesserung der Luftqualität in Städten verständigt.
Für die Hansestadt Hamburg hat sich der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) mit verschiedenen Maßnahmen beworben. Als Dienstleister der Hansestadt setzt der LSBG unter anderem Digitalisierungsprojekte erfolgreich um, darunter auch das Projekt „Stauprognose“, hinter dem sich die Einführung eines neuen softwaregestützten Stauprognosetools verbirgt.
Der Projektsteckbrief
Die Leiterin des Projekts, Dr. Melanie Mergler, fasst die Zielsetzung zusammen: „Eine unserer Hauptaufgaben bestand darin, eine Simulationssoftware zu entwickeln, die eine verbesserte Stauprognose und die Erfassung von Live-Staudaten ermöglicht. Damit sollen die Mitarbeiter*innen des LSBG und die Polizist*innen der Verkehrsleitzentrale (VLZ) ein Werkzeug an die Hand bekommen, mit dem sie Wechselwirkungen zwischen Stau und Baumaßnahmen analysieren können, um dann Verkehrsteilnehmer*innen Empfehlungen auszusprechen und so letztlich den Verkehrsfluss zu verbessern.“
Umgesetzt wurde das Vorhaben im Zeitraum vom 1. November 2018 – 31. März 2020. Mit der erfolgreichen Übergabe am 1. April 2020 wurde das System in den operativen Betrieb des LSBG und der VLZ eingebunden.
Aus der Simulationssoftware Stauprognose beim LSBG wird „TRIAS“
Im Verlauf des Projekts verließ sich das Team auf die Kompetenzen zweier Softwarehersteller: WPS – Workplace Solutions und PTV Group. Gemeinsam entwickelten sie beim LSBG die Softwarelösung Stauprognose, die außerhalb des LSBG unter dem Namen TRIAS angeboten wird. Sie setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:
- Das intuitive Frontend von ROADS – einer Software zur Baumaßnahmenkoordination und zur Analyse von Verkehrsflussveränderungen – inklusive deren Metaphern und Elemente.
- Das intelligente Backend powered by PTV Visum – ein Verkehrsnachfragemodell zur Simulation und Berechnung der verkehrlichen Wirkung von Eingriffen in den Verkehr.
Wolfgang Pelousek, Senior Sales Mitarbeiter bei der PTV Group, erläutert die Besonderheit von TRIAS: „Die Softwarelösungen zur Planung von Baumaßnahmen, die es bisher auf dem Markt gab, liefern Anwendern wenig bis keine Hinweise, welchen Einfluss geplante Maßnahmen während der Bauzeit auf den zu erwartenden Verkehrsfluss haben werden. Mit TRIAS bekommen die Verantwortlichen genau diese Information und können mit den Details ihre Baustellen intelligenter planen.“
In der Hansestadt Hamburg ist TRIAS als „Stauprognose“ im Einsatz
- zur langfristigen Verkehrsplanung und damit zur dauerhaften Verkehrsflussverbesserung: Baustellenkoordinierer*innen können die Auswirkungen von Baumaßnahmen und den dazugehörenden Eingriffen in die Verkehrslenkung, wie z.B. Fahrbahnverengung, Spursperrung oder Umleitungen simulieren. Mit TRIAS alias Stauprognose werden verschiedene Varianten und Baustellenkonstellationen durchgespielt und auf ihre Verträglichkeit für den Verkehr untersucht. Auch neue Kolleg*innen mit wenig Erfahrung können mit Hilfe des Tools zielgerichtete Entscheidungen treffen.
- zur kurzfristigen Verkehrsplanung im Umgang mit Sonder- und Ad hoc Ereignissen: Polizist*innen simulieren mit TRIAS alias Stauprognose verkehrliche Auswirkung bei Störungen im Verkehrsnetz durch Sonder- und Ad-hoc-Ereignisse und leiten proaktiv verkehrsstabilisierende Maßnahmen ein. Sie geben beispielsweise Ausweichempfehlungen für Autofahrer*innen an die Radiosender (sogenannte TIC-Meldungen) weiter.
TRIAS im Einsatz für die langfristige Verkehrsplanung am Beispiel des LSBG Hamburg
In Harburg, einem Stadtteil im Süden Hamburgs, sind im Zentrum für 2021 großräumige Maßnahmen geplant. Den Baukoordinator*innen ist bewusst, dass aus verkehrstechnischer Sicht nicht alle Maßnahmen zeitgleich umgesetzt werden können, ohne den Verkehr zum Stillstand zu bringen.
Die Verantwortlichen des LSBG untersuchten mit der Simulation in TRIAS die Fragestellung, wohin der Verkehr verdrängt wird, wenn ganze Straßenzüge oder Teile davon gesperrt werden. Die Softwareergebnisse zeigten die konkrete Kapazitätenübersteigung der Straßen (z. b.: 33 Prozent) und ließen den Schluss zu, dass eine zeitgleiche Umsetzung der Projekte nicht zu empfehlen ist, da sie die Straßenkapazität zu sehr belasten.
TRIAS im Einsatz für die kurzfristige Verkehrsplanung am Beispiel der Sperrung der Köhlbrandbrücke
Am 17. Juni 2020 haben Aktivist*innen der Klimaschutzbewegung „Extinction Rebellion“ die Zufahrten zur Köhlbrandbrücke blockiert. Die nicht genehmigte Versammlung führte zur Sperrung der Brücke in beide Richtungen. Die diensthabenden Polizist*innen der Verkehrsleitzentrale simulierten daraufhin mit TRIAS die unvorhergesehene Sperrung und ihre Auswirkungen auf das umliegende Straßennetz und fanden heraus, dass
- die Verkehre sich im Hafen auf beiden Seiten der Brücke stauen
- und auch über die Abfahrt der Anschluss-Stelle HH-Wilhelmsburg (BAB 7) die Stauung bis zurück auf die Autobahn reicht
Die Beamt*innen in der Verkehrsleitzentrale leiteten daraufhin folgende Maßnahmen ein:
- Die Verkehrsteilnehmer*innen wurden durch Verkehrsmeldung über das TIC-System über die aktuelle Lage in Kenntnis gesetzt.
- Gleichzeitig nutzte die Polizei in enger Rücksprache mit der HPA / Port Road Management (Hamburg Port Authority), die im Hafen verbauten DIVA-Tafeln (Dynamische Information zum Verkehrs-Aufkommen), um im Hafen über die Situation zu informieren.
- Die Lichtsignalanlage auf Höhe Rossdamm wurde entsprechend getaktet
- und auf Basis der vorliegenden Simulation konnten die diensthabenden Wachfrauen- und -männer fundierte Presseauskünfte z.B. an die dpa und lokale Radiosender geben.
Erste Eindrücke nach dem „Go Live“
Das Projekt wurde am 30. März 2020 erfolgreich abgeschlossen und an den LSBG übergeben. Seit dem 1. April ist das System in aktiver Nutzung. Beide Anwendergruppen bescheinigen der Anwendung einen positiven und nachhaltigen Nutzen im Arbeitsalltag, vor allem auch für Kolleg*innen ohne Verkehrshintergrund.
Ausblick: ITS World Congress 2021
Alle drei Jahre kommt der ITS World Congress, die weltweit größte und wichtigste Veranstaltung für intelligente und digitale Mobilität, nach Europa. Die Ausrichtung ist für den Gastgeber*innen mit großem Prestige verbunden. Hamburg ist deshalb besonders stolz, im Herbst 2021 internationale Expert*innen der Verkehrsbranche zur 28. Ausgabe des ITS World Congress begrüßen zu dürfen. Da 2020 die meisten Fachmessen Corona-bedingt ausgefallen sind, hat der ITS World Congress 2021 einen besonderen Stellenwert. Bei weiterhin stabiler COVID-Lage rechnen die Veranstalter*innen mit einer hohen Teilnehmerdichte und großem Interesse für die vorgestellten Projekte. Als ITS-Ankerprojekt wird „Stauprognose“ ein zentrales Projekt des Messeauftritts Hamburgs sein. Darauf ist das Projektteam im DigiLab des LSBG, das viel Zeit und Energie in eine erfolgreiche Umsetzung investiert hat, besonders stolz und freut sich darauf, die Erfahrungen, die das Team gesammelt hat, mit dem internationalen Publikum teilen zu können.