Selten stand ein Verkehrsmittel in Deutschland so in der Kritik wie die Schiene. Und doch könnte der Bahnverkehr der notwendigen Transformation der Mobilität im ländlichen Raum entscheidend Vorschub leisten. Relevant ist dabei nicht nur die Verbesserung der bestehenden Infrastruktur, sondern auch die Reaktivierung ausgedienter Strecken und Gleise. Dafür eignet sich der jetzige Zeitpunkt so gut wie nie zuvor.
Defizite im Schienenverkehr
Die Defizite beim Schienenverkehr behindern die Verkehrswende. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Strecken wurden bis in die 2000er Jahre aufgrund geringer Wirtschaftlichkeit stillgelegt.
Das Automobil verdrängte gerade in den 60er und 70er Jahren die Nachfrage nach dem Schienenverkehr. Weniger Nachfrage führte zu schlechterem Angebot, was zu noch weniger Nachfrage und mehr Stilllegungen führte.
Aber bereits in den 90er Jahren begann die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken. Die Bedingungen zur Förderung hatten sich geändert und der Gesetzgeber erhöhte die Mittel im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Seit Dezember 2019 legt die DB Netz als größtes Unternehmen für die Schieneninfrastruktur in Deutschland keine Bahnstrecken mehr still. Nicht nur die Allianz pro Schiene, auch Bund, Länder und die Aufgabenträger für den Schienenverkehr wollen Reaktivierungen von Bahnstrecken als Chance nutzen und fördern.
Mit Schienenverkehr wieder auf das Land
Es gilt, das Potenzial von Bahnstrecken zu erfassen. Dafür muss man den Bedarf auf dem Land von dem in Städten unterscheiden. Stadtgebiete verfügen im Regelfall über einen guten ÖPNV. In schlecht angebundenen Gebieten auf dem Land oder in strukturschwachen Bereichen wie Grenzregionen sieht man dagegen einen hohen Bedarf für die Reaktivierung von Bahnstrecken.
Image und Attraktivität eines Ortes hängen u. a. von der Anbindung an das öffentliche Schienennetz ab. Erst recht, wenn es darum geht, den ländlichen Raum für den Zuzug junger Familien interessant zu machen.
Mobiles Arbeiten hat das Landleben zusehends interessant gemacht. Die niedrigeren Immobilienpreise machen – bei guter Anbindung – das Leben außerhalb großer Stadtzentren für Jung und Alt wieder anziehend. Und das ohne eine Verschlechterung der CO2-Bilanz.
Durch den zunehmenden Einsatz von E-Bikes sowie die höhere Aktzeptanz von Park-and-Ride-Systemen haben Haltestellen immer größere Einzugsbereiche. Bahntrassen, deren Haltepunkte sich teilweise außerhalb von Orts- oder Innenstadtlagen befinden, erhalten dadurch einen weiteren Schub.
Änderungen im Modal Split gewünscht
Immer mehr Menschen sind bereit, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Dafür wünschen sie sich jedoch ein besseres Verkehrsangebot. Die Einführung des Deutschlandtickets ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung.
Doch auch das Verkehrsangebot selbst muss besser werden. Im Schienenverkehr sind dabei Reaktivierungen im Fokus, da sie sich schneller umsetzen lassen als Streckenneubauten.
Potenzialanalysen geben Aufschluss darüber, wo man relevantes Fahrgastpotenzial erwarten kann. So untersuchte die Landesregierung von Baden-Württemberg 42 Strecken. Von diesen werden heute noch dreizehn im Güterverkehr und sechs im Freizeitverkehr betrieben. Die Studie zeigte große Potenziale bei mehr als der Hälfte der untersuchten Strecken.
Nutzen-Kosten-Untersuchungen (NKU) zeigen, in welcher Größenordnung sich der modale Anteil des Öffentlichen Verkehrs verbessern lässt. Und ob es sich lohnt, die Reaktivierung in Angriff zu nehmen.
Was kostet ein Kilometer Gleis?
Die Kosten pro Kilometer Gleis bei einer Streckenreaktivierung liegen erfahrungsgemäß zwischen zwei und zehn Millionen Euro. Günstiger wird eine Reaktivierung immer dann, wenn eine stillgelegte Strecke noch dem Betrieb des Schienenverkehrs gewidmet ist. Auch wenn sich die Trasse in einem guten Zustand befindet und man keine Bauwerke erneuern muss, wird es kostengünstiger.
Abhängig davon kann die Investition also sehr gering sein oder den Kosten einer Neubaustrecke entsprechen. Um das zu bestimmen, durchläuft jedes Projekt zur Reaktivierung im Vorfeld eine NKU. Verkehrsberatungsunternehmen wie die PTV Transport Consult GmbH bieten diese an.
Die Infrastrukturplanung stellt dabei einen von vier Planungsschritten dar. Hier klären die Verkehrsberater die Widmung der Strecke, die Trassenplanung und die Lage der Haltepunkte.
Ist die Streckenführung noch zeitgemäß? Müsste man ein Neubaugebiet anbinden? Wo könnten geeignete Standorte für Haltepunkte liegen? Wie lässt sich die Strecke beschleunigen?
Die Betriebsplanung wird zumeist parallel erarbeitet. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen das Taktangebot und erzielbare Fahrzeiten. Dabei wird mindestens ein Stundentakt angestrebt. Experten klären in diesem Rahmen auch die Frage der Fahrzeugtypen und der passenden Antriebe.
Die Verkehrliche Untersuchung begleitet die technischen Planungen. Die Verkehrsberater werden zu Verkehrsmodellierern, die Nachfragemodelle erzeugen. Diese geben realitätsnah Auskunft darüber, wie viele Personen die Strecke voraussichtlich nutzen werden. Damit lässt sich die Wirkung der geplanten Maßnahmen realistisch abschätzen.
Vielfalt der Kosten und Nutzen
Kosten entstehen für den zusätzlichen Bahnverkehr sowie den Bau und die Unterhaltung der Strecke. Alle Werte werden monetarisiert und in einem Nutzen-Kosten-Indikator dargestellt.
In der jüngsten Vergangenheit erfolgte die wichtigste Anpassung zur erfolgreichen Schienenstreckenreaktivierung: Die Standardisierte Bewertung wurde aktualisiert. Das Verfahren gibt die Rahmenbedingungen der NKU vor und entscheidet darüber, ob es Fördermittel des Bundes gibt.
Mit der aktualisierten Verfahrensanleitung führte man eine neue und positivere Methodik zur Ermittlung der Fahrgastnutzen ein. So ist der Bewertungssatz eingesparter CO2-Emissionen über viermal höher als vorher. Darüber hinaus integrierte man neue Teilindikatoren, welche die Nutzensumme erhöhen können.
Dazu gehören die Berücksichtigung der Daseinsvorsorge bzw. Aspekte zur Raumordnung. Diese ergeben sich durch eine bessere Anbindung des ländlichen Raumes. Auch der geringere Flächenverbrauch in Städten durch einen reduzierten Pkw-Verkehr trägt dazu bei.
Bis zu 90 Prozent Förderung durch den Bund
Auf der Seite der Finanzierung hat sich einiges getan. Rückwirkend zum 01.01.2020 trat das Dritte Gesetz zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) in Kraft. Neben dem deutlich erhöhten Betrag der zur Verfügung gestellten Bundesfinanzhilfen wurde die Mindestvorhabengröße gesenkt.
Äußerst attraktiv ist die staatliche Förderung der Reaktivierung von Schienenstrecken mit bis zu 90 Prozent der Infrastruktur-Investitionen. Es kann sich sowohl um ehemalige Eisenbahnen handeln als auch um Straßenbahntrassen, die stillgelegt wurden. Kein Wunder, dass sich viele Gebietskörperschaften mit der Reaktivierung ihrer Bahnstrecken befassen und Untersuchungen in Auftrag geben. Sie hoffen auf positive Machbarkeitsstudien.
Gelungene Beispiele für die Reaktivierung von Schienenstrecken
Gelungene Beispiele für Reaktivierungen sind die Ermstalbahn (Metzingen – Bad Urach) und die Ammertalbahn (Tübingen – Herrenberg), die schon 1999 reaktiviert wurden. Beide Bahnen konnten ihre Fahrgastzahlen seit ihrer Einführung mehr als verdoppeln.
Seit 2022 sind beide Strecken elektrifiziert. Die Strecken sind Teil der im Aufbau befindlichen Regional-Stadtbahn Neckar-Alb. Hier war die PTV mit Machbarkeitsstudien und NKUs maßgeblich beteiligt .
Die Reaktivierung der Talgangbahn, der Gomaringer Spange und der Echaztalbahn sind ebenfalls Bestandteil des Vorhabens. Die reaktivierten Strecken profitieren von der Einbindung in ein Regional-Stadtbahn-Netz und einer guten Anbindung der Zentren.
Auch der Erfolg der benachbarten Schönbuchbahn im Landkreis Böblingen ist über die Region hinaus bekannt. Im Jahr der Reaktivierung in 1996 zählte man über 4.000 Fahrgäste, heute mehr als doppelt so viele. Zwischen 2016 und 2019 erfolgte die Elektrifizierung und ein teilweise zweigleisiger Ausbau der Strecke zur Steigerung der Streckenkapazität.
Die Bahn selbst ist nun Standortfaktor und trägt zur Prosperität der Region bei. Wichtig ist dabei, dass auch Mittel- und Oberzentren wie zum Beispiel Stuttgart besser erreichbar sind. Pendler steigen zunehmend auf die Bahn um und entlasten die Städte vom Autoverkehr. Die reaktivierten Bahnen sind aber auch Teil der regionalen Identität.
Freizeit- und Tourismusverkehr ergänzen den Pendlerverkehr optimal. Da diese Verkehrsströme zeitlich komplementär stattfinden, haben die Strecken gegen die Lastrichtung und am Wochenende genug Nachfragepotenzial. Dazu zählen die Heidekrautbahn oder die Usedomer Bäderbahn. Wenn die Ostseeinsel von Touristen überschwemmt wird, ist die parallel zur Ostseeküste fahrende Bahn oft die bessere Verkehrsmittelwahl.
Grenzen der Reaktivierung alter Bahnstrecken
Aber nicht immer muss das Reaktivieren stillgelegter Bahngleise die richtige Lösung sein. Das hängt sehr von den örtlichen Gegebenheiten und dem Investitionsbedarf ab. Das Ergebnis einer NKU macht deutlich, ob es sich lohnt, eine stillgelegte Bahnstrecke zu reaktivieren. Aber gibt es noch andere Hindernisse als ein negatives Ergebnis einer NKU?
Die Planungen müssen auch zur strukturellen Entwicklung eines Gebietes passen. Es gibt Städte, Gemeinden oder Landkreise, in denen der Schienenverkehr (noch) nicht die richtige Akzeptanz hat. Oder in denen eine Reaktivierung einer alten Strecke einfach keinen Sinn macht.
Die mögliche Taktzahl spielt hier eine Rolle oder die Fahrtdauer. Wer mit dem Auto doppelt so schnell am Zielort ist, wird eher nicht den Zug nehmen. Wenn stillgelegte Trassen bereits überbaut oder für andere Nutzungen wie Radwege umgewidmet wurden, macht eine Reaktivierung wenig Sinn. Auch kann es Hürden bezüglich des Naturschutzes geben, wenn sich die Natur die Schienenstrecke zurückgeholt hat.
Reaktivieren als Teil der Verkehrswende
Laut eigenen Angaben möchte die DB allein in den nächsten Jahren 20 Strecken in der Gesamtlänge von 245 Kilometern wieder in Betrieb nehmen. Das Investment für jeden Kilometer an Bahn- oder Straßenbahngleisen ist hoch. Es handelt sich um eine komplett modernisierte Infrastruktur, die in Betrieb genommen wird.
Das lohnt sich nicht immer – doch die Chance ist jetzt so groß wie nie. Bahnstrecken Reaktivierungen sind ein wichtiger Baustein für die Mobilitätswende. Sie tragen damit zur Verbesserung der Klimabilanz bei.
Reaktivierungen auch als Teil der Daseinsvorsorge
Eine erfolgreich reaktivierte Bahnanbindung macht nicht nur den Standort attraktiver, sondern schafft Daseinsvorsorge. Dies geschieht durch die bessere Anbindung an zentrale Versorgungsstrukturen wie medizinische Versorgung, Bildungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungen. Das kommt den Einwohnenden und Gemeinden am Ende zugute.
Zudem führen Reaktivierungen die Menschen in den ländlichen Räumen an die städtischen Netze heran. Dass damit die anliegenden Kommunen attraktiver werden, ist ein schöner Nebeneffekt.
All die positiven Beispiele und Gründe sprechen für die strukturierte Untersuchung von potenziellen Strecken zur Reaktivierung. Die hohen Fördermitttel des Bundes und die vorteilhaften Bedingungen zur Bewertung machen das Vorhaben aktuell besonders aussichtsreich.